- von Lars Schneider –
DAS ENDE DER NACHT
Wenn sich weit im Norden Norwegens die Polarnacht ihrem Ende nähert und die Sonne zum ersten Mal wieder über den Horizont kriecht, beginnt wohl die schönste Zeit für Huskytouren. Der Atem gefriert bei Temperaturen bis minus 30 Grad, und das Licht verzaubert.
Die Luft knistert. Ist erfüllt von einer Energie, wie ich sie nie zuvor so geballt erlebt habe. 55 Huskys bellen, schreien, hecheln und jaulen, zerren an ihren Ketten, springen wie toll im Kreis. Sie wissen, dass Sie wieder laufen dürfen. Laufen und ziehen. Heute noch. Gleich.
Vor meinen Schlitten gehören sechs Hunde: Toivo, der Leithund, daneben Lotte, dahinter Sarek und Tornado, dann Ben und Pia. Keine leichte Aufgabe, sie das erste Mal in ihr Geschirr zu zwängen und einzuspannen. Wild sind die Huskys ohnehin, heute, wo es losgeht in ihrer Vorfreude gleich noch eine Spur wilder – und ich schätze, sie durchschauen das Greenhorn in mir. Tornado macht es mir besonders schwer. Sie ist, wie sie heißt, wirbelt zwischen meinen Beinen umher, ist zu aufgeregt als dass ich ihr das Geschirr überstreifen könnte. Erst beim dritten Anlauf gelingt es. Die Hunde reißen mich fast von den Füßen, als ich sie die 50 Meter hinüber zum Schlitten bringe. Sie wollen los. Ich auch. Kann es kaum erwarten, endlich mit meinem Gespann in die weiße Winterwelt Lapplands aufzubrechen.
35 von 55 Hunden auf Björn Klauers Huskyfarm in Innset am Altevatn, weit oberhalb des Polarkreises, werden auf unserer Tour dabei sein. Fünf Gespanne, 35 Hunde, die anderen Tiere bleiben zurück. Für acht Tage brechen wir auf in die Wildnis in und um den Övre Dividal Nationalpark. Nach und nach starten die Gespanne, in vorgeschriebener Reihenfolge. Erst Björn, unser Guide, ein Hamburger, der Deutschland vor 18 Jahren verließ und vor sieben Jahren norwegischer Staatsbürger wurde, gefolgt von Petra, einer Mittvierzigerin aus Erlangen, dann ich, hinter mir die beiden Schweizer Christian und Filip.
Toivo, Lotte, Sarek, Tornado, Ben und Pia ziehen, was das Zeug hält, zerren am Schlitten. Noch sind wir fest. Der Schneeanker hält mich und das Startseil, zudem stehe ich auf der Bremse. Vorsichtig löse ich den Anker, die Hunde bemerken das leichte Rucken sofort und zerren noch heftiger. Die Bremse hält uns nicht mehr, das Startseil ist zum Zerreißen gespannt. Ich löse den Schnappverschluss mit einem Ruck – und muss mich gut fest halten. Wie eine Rakete schießt mein Gespann los, rast vom Hof der Huskyfarm und los in Richtung Altevatn, auf dem wir die ersten 50 Kilometer der Tour bleiben werden.
Dämmerung um 14.00 Uhr
Was für ein Gefühl: Ich stehe auf den Kufen des Schlittens, halte mich noch etwas verkrampft fest, bremse vielleicht ein bisschen viel, vor mir sechs Kraftpakete, die endlich wieder das tun dürfen, was sie am liebsten machen im Leben: Laufen und ziehen. Für sie geht es auf die Jagd, der Wolfsinstinkt steckt noch immer in den Tieren.
Rundum ist es weiß, der Altevatn eine große, eisige Fläche vor uns, Berge rundum, sanfte Kuppen, kaum ein scharfer Grat irgendwo. Das Auge darf gleiten, wie es der Schlitten tut.
Es ist 12 Uhr. Doch jetzt, Ende Januar, streifen die Sonnenstrahlen nur die höchsten Gipfel der Berge ringsum. Björn hat die Sonne seit einem viertel Jahr nicht mehr gesehen.
Nach zwei Stunden eine kurze Rast auf dem Eis. Die Schlitten liegen auf der Seite, wir treffen uns in der Mitte des Konvois auf einen heißen Tee aus der Thermoskanne und auf eine 200 Gramm Tafel Schokolade. Der Mond steht am Himmel, über dem Horizont ein Streifen Purpur, der in weichen Wellen in ein intensives Blau verebbt. Es ist 14 Uhr und dämmert bereits. Lange können wir die Pause ohnehin nicht ausdehnen, die Hunde sind unruhig. Es steckt noch so viel Energie in ihnen, sie zerren an den Leinen – auch die gekippten Schlitten können sie nicht wirklich bremsen – und stimmen einen ohrenbetäubenden Gesang an. Töne, die nach Abenteuer klingen, nach Wildnis , nach Jack London.
Unser erstes Camp liegt am Ufer des Sees. Dort hat Björn ein Lavvu errichtet, ein Samenzelt ähnlich einem Indianertipi. Gemütlich ist es drinnen, auf den wärmenden Rentierfellen, die Füße ganz nah am gusseisernen Ofen. Draußen sind es unter 30 Grad Minus, drinnen sitzen wir in Unterwäsche, die Beine der langen Unterhosen unter die Knie hochgezogen.
Der Sonne entgegen
Der zweite Tag auf dem See liegt hinter uns – und eine Nacht in einer kleinen grünen Holzhütte, die sonst Ranger des nahen Nationalparks nutzen – als der Tag anbricht, an dem Björn die Sonne zum ersten Mal wiedersieht seit drei Monaten und wir seit vier Tagen. Schon früh gleiten wir über den See in Richtung Südosten, versuchen warm zu werden, in dem wir den Schlitten mehr schieben als notwendig, immer mal wieder mitlaufen. In meiner Nase gefriert der Rotz, kleine Eiskugeln zieren meine Wimpern. Ich bin gespannt ob, wann und wo sich die Sonne blicken lassen wird. Dann, wie ein Antwort, ein erster Strahl, ein feuerroter Blitz, der uns vom Horizont entgegen schießt. Die Sonne entsteigt der Tundra, wandert zaghaft einige handbreit über den Boden und überflutet das Land mit Licht. Zwei Husky-Gespanne sind vor mir,sie fahren in die aufgehende Sonne, wie echte Cowboys in die untergehende reiten. Fast kitschig ist es, aber auch einfach schön, unglaublich schön, so schön, dass mir ein Schauer über den Rücken rinnt. Als Silhouetten heben sich Schlitten, die beiden Musher und Tiere vor mir ab, ich höre das Keuchen der Hunde, sehe ihren dampfenden, glitzernden Atem.
Über eine Landzunge auf der abgestorbenen Birken aus dem Boden ragen und die im Sommer sumpfig und von Mücken verseucht sein muss, haben wir den Altevatn verlassen und gleiten nun über den kleineren Leinavatn. Noch eine Weile können wir die entspannte Fahrt über die Ebene genießen, dann schwenken wir ab nach Osten und hinein in die Berge.
Nicht nur, dass es dort naturgemäß bergauf gehen wird, auch der Schnee dort ist tiefer, es gibt Steine und Felsen und Büsche und Bäume denen man ausweichen muss. Selbst bei minus 20 Grad kommen wir da schnell ins Schwitzen. Mindestens mit einem Bein müssen wir die Schlitten ohne Unterlass anschieben wie beim Rollerfahren, immer wieder muss ich ganz von den Kufen und den Schlitten einen steilen Absatz hinauf schieben, während die Hunde vorn ohne Unterlass ziehen. Keiner könnte hier allein bestehen, nicht die Huskys, nicht ich, nur als Team schaffen wir die Höhenmeter.
Mit den Hunden in die Berge
Nach dem traumhaften Erwachen des Tages wird das Licht nun immer schwächer und diffuser, die Sonne verschwindet hinter einer dünnen Wolkenwand. Während wir uns weiter bergan kämpfen, fängt es leicht an zu schneien und wird windig. Unsere 5er-Kette ist zerrissen, ich sehe Petra irgendwo weit voraus als kleinen schwarzen Punkt vor einer riesigen weißen Leinwand. Wo der Himmel endet und der Boden beginnt ist nicht auszumachen. Eine Schutzhütte an der schwedischen Grenze wollen wir erreichen, noch bevor es dunkel wird, doch nicht einmal Björn weiß, ob wir es schaffen werden. „Sonst bauen wir halt an einer halbwegs geschützten Stelle das Zelt auf. Ist auch kein Problem.“
Irgendwann liegt der höchste Punkt des Tages hinter uns, es geht leicht bergab, der Schnee ist nicht mehr so tief, die Hunde laufen leichter und können wieder zu Kräften kommen. Dafür leiden nun die Schlitten. Immer wieder krachen die Kufen über Steine und Felsen, schrammen an Büschen und kleinwüchsigen Bäumen entlang. In einer scharfen Rechtskurve muss ich plötzlich halten, stehe mit beiden Beinen voll auf der Bremse, rufe laut „stoooooo “ und komme gerade noch rechtzeitig zum Stehen. Eine Krüppelbirke wächst direkt vor mir aus dem Schnee.
Die Hunde wären wahrscheinlich noch dran vorbeigekommen, der Schlitten nie. Während Toivo, Lotte, Sarek, Tornado, Ben und Pia verschnaufen, gehe ich nach vorn, um den Schlitten auszurichten. Das dabei unvermeidbare Ruckeln an ihren Zugleinen sehen sie natürlich sofort als Zeichen, dass es weitergeht, wie könnte es anders sein und legen sich mächtig ins Zeug. Während ich es gerade noch schaffe, auf den Schlitten zu springen, um nicht zurückgelassen zu werden, kracht der vordere Holzbogen mit voller Wucht an den Stamm der Birke. Es knackt, das Bäumchen ist gefällt. Die Hunde schauen sich nicht einmal um, zerren und ziehen weiter, keuchen und sind noch immer erfüllt von ihrem Lauftrieb. Auch nach über 40 Kilometern und 400 Höhenmetern.
Nachfahrt bei Minus 30 Grad
Die Hütte ist noch nicht in Sicht, als uns die Polarnacht umfängt. Fünf Hundegespanne bewegen sich langsam über die Hochebene, als weiße, unregelmäßig umrissene Scheibe, wirft der Vollmond sein Licht durch Schleierwolken über das Land. Es ist nicht schwarz um uns sondern vielmehr blau. Das Thermometer, das an meinem Schlitten baumelt, zeigt wieder knapp minus 30 Grad an, doch ich friere nicht. Ich beobachte die Spur von Björn und Petra und meine Hunde davor, lausche ihrem gleichmäßig gehenden Atem, dem Knistern des Schnees unter uns und den hin und wieder knarrenden Holmen meines Schlittens.
Was jetzt noch fehlt, ist ein über den Himmel zuckendes Nordlicht, so vielleicht, wie am ersten Abend am Altevatn. Als ein doppelter, satt-grüner Bogen, geschwungen wie eine Kathedrale mit Zwiebelturm, im Westen über den Bergkämmen loderte. Doch es gibt kein Nordlicht, das einem anderen gleichen würde.
Die Hütte – ein Spitzdach, direkt vom Boden ansteigend, eine kleine Tür vorn, ein winziges Fenster hinten, drinnen zwei Pritschen und ein kleiner Ofen – ist an allen Ecken mit zum Boden führenden Stahlseilen gesichert. Auch das Plumpsklo gegenüber und der Holzschuppen. „Einmal war das Wetter hier oben so schlecht, stürmisch und mit einer Sicht gleich Null, dass wir zwischen dem Klohäuschen und der Hütte ein Seil spannen mussten“, erzählt uns Björn beim Essen.
Eine Stunde später finde ich den einst so gesicherten Weg ganz leicht. Der Mond strahlt wie ein Scheinwerfer von einem inzwischen klaren Himmel, eine Flut an Sternen steht ihm zur Seite. Die 20 Meter sind kein Problem. Sorgen bereitet mir nur die von einer Schneewehe bedeckte Klobrille.